MWGFD empfiehlt den Artikel „40 Jahre Jodsalzprophylaxe – soll es einfach so weitergehen?“, verfasst von dem Agraringenieur Dr. Timo Böhme.
40 Jahre Jodsalzprophylaxe – soll es einfach so weitergehen?
Von Dr. Timo Böhme, dem Autor des Buches „Chronik und Kritik zur Jodprophylaxe“ und der Initiative „40 Jahre Jodprophylaxe – Kampagne für Transparenz und Antworten“
Seit 40 Jahren wird in Deutschland jodiertes Salz eingesetzt (Start 1983 in der DDR, Arbeitskreis Jodmangel e.V., Köhrle et al. 1998). Die EU ermöglichte mit der Richtlinie 70/524/EWG des Rates zudem den Einsatz von jodierten Futtermittelzusätzen in der Größenordnung von bis zu 10 mg Jod pro Liter Milch. Dabei waren 40 ppm Jod im Tierfutter zugelassen, was mittels Extrapolation der Ergebnisse von Flachowsky et al. 2014 diese enormen Jodwerte ergibt (WHO-Empfehlung bis zu 0,3 mg Jod pro Tag).
Die sogenannte Jodprophylaxe in Deutschland besteht damit aus 5 Komponenten:
1. Eine nicht gekennzeichnete und nicht quantifizierte Zwangsjodierung sämtlicher Konsumenten von Lebensmitteln tierischen Ursprungs (EU-Richtlinie 70/524/EWG)
2. Ein nicht gekennzeichneter Einsatz von jodiertem Salz beim Absatz loser Ware wie z.B. Backwaren und Wurstwaren (Zweite Verordnung zur Änderung der Vorschriften über jodiertes Speisesalz 1993)
3. Ein nicht gekennzeichneter Einsatz von jodiertem Salz im Gaststättengewerbe und in der Gemeinschaftsverpflegung (Zweite Verordnung zur Änderung der Vorschriften über jodiertes Speisesalz 1993)
4. Ein nur zum Teil gekennzeichneter Einsatz von jodiertem Salz bei der Herstellung verpackter Lebensmittel für den Einzelhandel (EU-Verordnung 1169/2011)
5. Ein aus Sicht des Verbrauchers freiwilliger Einsatz von jodiertem Speisesalz im Haushalt.
Zudem startete die Jodprophylaxe mit einem Versprechen, welches heute noch auf der Website des Arbeitskreises Jodmangel e.V. zu finden ist: „JOD– damit die Schilddrüse gesund bleibt“ (Arbeitskreis Jodmangel). Gleichzeitig wird aber festgestellt: „Deutschland ist seit einiger Zeit kein ausgewiesenes Jodmangelgebiet mehr. Aber aufgrund des früheren jahrzehntelangen schweren Jodmangels ist bei Senioren (älter als 65 Jahre) etwa jeder Zweite von einem Kropf oder einer Knotenschilddrüse betroffen.“ (Jodversorgung bei Senioren „jodmangel.de“) Abgesehen von der Tatsache, dass es keine Statistik gibt, welche die vorlaufende Aussage bestätigen würde (Antwort auf Kleine Anfrage im Bundestag Drucksache 19/17062, Antwort auf Kleine Anfrage im Landtag Rheinland-Pfalz Drucksache 17/2750 und persönliche Kommunikation mit dem RKI), muss doch die Frage gestellt werden, was Jahrzehnte der Jodprophylaxe überhaupt bewirkt haben? Die vom Arbeitskreis genannten Senioren über 65 Jahre wurden, wie alle anderen Bürger dieses Landes auch, seit spätestens 1989, dem Start der Jodsalzprophylaxe in der gesamten Bundesrepublik, massiv zwangsjodiert (siehe Auflistung oben) und haben aufgrund der immerwährenden Verbreitung der Nachricht „Jod ist gesund“, vielleicht auch noch Jodsalz und Jodtabletten freiwillig eingesetzt. Wieso hat dann eine über Jahrzehnte andauernde Jodprophylaxe die Schilddrüsen der älteren Bürger nicht gesund gemacht oder gesund erhalten? Wieso wurde das Versprechen nicht eingelöst? Weil die Tatsachen eine völlig andere Sprache sprechen.
Im Jahr 2002 veröffentlichten Mitarbeiter des Robert Koch-Institutes Ergebnisse aus Gesundheitssurveys (Melchert et al. 2002 „Schilddrüsenhormone und Schilddrüsenmedikamente bei Probanden in den Nationalen Gesundheitssurveys“). Die Angaben beruhen auf den deutschen Gesundheitssurveys aus den Jahren 1984 bis 1991 (BRD), also aus einer Zeit vor oder in der Frühphase der 1989 gestarteten bundesweiten Jodsalzprophylaxe, jedoch noch vor der Zweiten Verordnung zur Änderung der Vorschriften über jodiertes Speisesalz im Jahr 1993. Insgesamt liegt die Prävalenz der medikamentös behandelten Schilddrüsenerkrankungen bei 5,5%, wobei der Wert für Männer mit ca. 1,8% wesentlich niedriger lag und der für Frauen mit ca. 9% wesentlich höher. Der Prozentsatz von Probanden mit Struma liegt bei unter 3%. Die Ergebnisse können somit als „Ausgangssituation“ vor dem Start einer breiten Jodprophylaxe angenommen werden. Von einem „endemischen Struma in Deutschland“, einem beliebten Argument aus der Anfangszeit der Jodprophylaxe, kann im Hinblick auf diese Zahlen überhaupt nicht gesprochen werden. Die meisten Menschen hatten eine gesunde Schilddrüse. Im Folgejahr 2003 veröffentlichten wiederum Mitarbeiter des Robert Koch-Institutes Ergebnisse aus einem späteren Gesundheitssurvey (Hildtraud Knopf und Hans-Ulrich Melchert 2003 „Beiträge zur Gesundheitsberichterstattung des Bundes - Bundes-Gesundheitssurvey: Arzneimittelgebrauch - Konsumverhalten in Deutschland“). Die Angaben beruhen auf dem deutschen Gesundheitssurvey aus dem Jahr 1998, also aus einer Zeit 4 bis 5 Jahre nach der Zweiten Verordnung zur Änderung der Vorschriften über jodiertes Speisesalz im Jahr 1993. Insgesamt liegt die Prävalenz der medikamentös behandelten Schilddrüsenerkrankungen bei 7,9%, wobei der Wert für Männer mit ca. 2,9% wiederum wesentlich niedriger lag und der für Frauen mit ca. 12,6% wiederum wesentlich höher. Im Vergleich zur „Ausgangssituation“, welche 2002 bei Melchert et al. beschrieben wird, sind die Werte jedoch bereits angestiegen, im Durchschnitt der Geschlechter um ca. 2,4%. Im Jahr 2013 veröffentlichten Mitarbeiter des Robert Koch-Institutes erneut zu Ergebnissen eines Gesundheitssurveys (Knopf und Grams 2013 „Arzneimittelanwendung von Erwachsenen in Deutschland“). Die Angaben beruhen auf dem deutschen Gesundheitssurvey (DEGS1) von 2008 bis 2011. Insgesamt liegt die Prävalenz der medikamentös behandelten Schilddrüsenerkrankungen bei ca. 11,5%, wobei der Wert für Männer mit ca. 4,5% wiederum wesentlich niedriger lag und der für Frauen mit ca. 18,6% wiederum wesentlich höher. Im Vergleich zur „Ausgangssituation“, welche 2002 bei Melchert et al. beschrieben wird, sind die Werte weiter angestiegen. Im Durchschnitt der Geschlechter um ca. 6%. Im Jahr 2019 antwortete die Landesregierung Rheinland-Pfalz auf eine Große Anfrage „Auswertung des Arzneiverordnungsreports und anderer Quellen im Hinblick auf die Verbreitung und Entwicklung von Schilddrüsenerkrankungen in Rheinland-Pfalz“ (Drucksache 17/9730). Demnach stieg die Anzahl der Patienten in der gesetzlichen Krankenversicherung mit einer gesicherten Diagnose im ICD-Spektrum E 00 bis E 07 (Schilddrüsenerkrankung) von 2009 bis 2018 von 491.000 auf 631.000, was ca. 15,5% der rheinland-pfälzischen Bevölkerung entspricht. Allerdings liegen keine Daten zur privaten Krankenversicherung vor, der Prozentsatz liegt in Bezug auf die Gesamtbevölkerung in RLP also schätzungsweise bei ca. 17%.
In den Jahren 2000 bis 2018 stieg zudem die Anzahl der von Apotheken zulasten der gesetzlichen Krankenversicherung abgegebenen Fertigarzneimittel der Subgruppe ATC H03 (Schilddrüsentherapie) in der Bundesrepublik von ca. 16,5 Mio. Packungen auf ca. 27,5 Mio. Packungen (Antwort auf Große Anfrage). Allerdings liegen keine Daten zur privaten Krankenversicherung vor, die Anzahl liegt in Bezug auf die Gesamtbevölkerung also um ca. 10% höher.
Beim Vergleich der deutschen Gesundheitssurveys von 1984 bis 2011 und der großen Anfrage aus dem Jahr 2019 ist festzustellen, dass die Prävalenz der Schilddrüsenerkrankungen enorm gestiegen ist. Sie liegt rein rechnerisch im Bereich von plus 200% verglichen mit der Ausgangssituation 1984-1991. Auch wenn dabei einschränkend erwähnt werden muss, dass die Daten aus Rheinland-Pfalz nicht als vollständig repräsentativ für den Bundesdurchschnitt angenommen werden können. Insgesamt ist also eine stark steigende Tendenz zu Schilddrüsenerkrankungen erkennbar. Die Jodprophylaxe hat also nicht nur ihr Versprechen nicht eingelöst, ihre Zeitdauer weist zudem eine positive Korrelation mit einer steigenden Anzahl von medikamentös behandelten Schilddrüsenerkrankungen auf. Eine negative Korrelation war aber vorhergesagt worden.
Hier passt etwas nicht zusammen, eingedenk der Tatsache, dass die WHO Deutschland bereits seit dem Jahr 2004 nicht mehr als Jodmangelgebiet sieht (de Benoist et al. WHO 2004). Welche Interpretationen sind also möglich?
1. Die Jodprophylaxe reicht noch nicht aus, wir müssen mehr jodieren (Arbeitskreis Jodmangel e.V.) – Gegenargument: Es wurden bereits enorme Jodmengen eingesetzt und Deutschland ist längst kein Jodmangelgebiet mehr.
2. Die Demografie hat sich verändert und vor allem die Alten haben kranke Schilddrüsen (Arbeitskreis Jodmangel e.V.) – Gegenargument: Das wissen wir gar nicht, da es keine aussagekräftige Statistik zu Schilddrüsenerkrankungen gibt. Außerdem hätte die Jodprophylaxe dann ihr Versprechen nicht eingelöst, unsere Schilddrüsen bis ins hohe Alter gesund zu erhalten.
3. Die Jodprophylaxe hat zur Verbreitung bestimmter Schilddrüsenerkrankungen beigetragen, möglicherweise ist sie sogar die Ursache von Autoimmunerkrankungen wie Hashimoto, Basedow u.a. (Jodierungsgegner) – Gegenargument: Das ist bisher nicht eindeutig beweisbar, zumal es keine diesbezüglichen Statistiken gibt.
Es bestehen also eine Reihe von Fragen, welche beantwortet werden müssen. Die Mauer des Schweigens (Böhme, Chronik und Kritik zur Jodprophylaxe 2020), welche Politik, Behörden und Jodierungsbefürworter um das Thema Jodprophylaxe aufgebaut haben, ist also weder hilfreich noch angemessen. Eine öffentliche Debatte zu den Ergebnissen und Nebenwirkungen der Jodprophylaxe ist dringend geboten und würde einer freien und demokratischen Gesellschaft gut zu Gesicht stehen. Vor allem muss ein valides Projektmonitoring und eine entsprechende Begleitforschung aufgebaut werden, welche eine wissenschaftliche Beurteilung überhaupt möglich macht (z.B. eine bundesweite Schilddrüsenstatistik oder globale bzw. europäische Meta-Studien). Unterstützen Sie daher die oben genannte Petition und stellen Sie Fragen? Ein weiter so ist aus meiner Sicht nicht zulässig, zumal etliche wissenschaftliche und epidemiologische Studien längst die gleichen Fragen aufwerfen:
Jodstatus und Prävalenz von Schilddrüsenerkrankungen nach Einführung der obligatorischen universellen Salzjodierung für 16 Jahre in China: Eine Querschnittsstudie in 10 Städten, öffentlich zugängliche Datenbank zu Medizinstudien PubMed (https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/; PMID: 27370068)
Jodkonzentration im Urin und Mortalität bei Erwachsenen in den USA, öffentlich zugängliche Datenbank zu Medizinstudien PubMed (https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/; PMID: 29882490)
Die verdeckte Zwangsjodierung sollte auf jeden Fall eingestellt werden. Solange wir nicht wissen, ob die Jodprophylaxe mehr Schaden als Nutzen angerichtet hat, sollte der Einsatz von Jodsalz nur noch auf freiwilliger Basis erfolgen und die Futtermitteljodierung eingestellt bzw. auf ein für die Tierernährung absolut notwendiges Minimum reduziert werden.
Quellen:
de Benoist et al.: Iodine status worldwide. WHO database on iodine deficiency, Geneva 2004
Flachowsky et al.: Influencing factors on iodine content of cow milk. Eur J Nutr 53, 2014, Seiten 351–365
Knopf und Grams: Arzneimittelanwendung von Erwachsenen in Deutschland. Ergebnisse der Studie zur Gesundheit Erwachsener in Deutschland (DEGS1). Bundesgesundheitsblatt 56, 2013, Seiten 868-877
Knopf und Melchert: Beiträge zur Gesundheitsberichterstattung des Bundes. Bundes-Gesundheitssurvey: Arzneimittelgebrauch Konsumverhalten in Deutschland. Robert Koch-Institut, Berlin, 2003
Köhrle et al.: Mineralstoffe und Spurenelemente. Molekularbiologie - Interaktion mit dem Hormonsystem – Analytik. 12. Jahrestagung der Gesellschaft für Mineralstoffe und Spurenelemente Würzburg 1996. In: Schriftenreihe der Gesellschaft für Mineralstoffe und Spurenelemente e.V., Stuttgart, 1998, Seite 214
Melchert et al.: Schilddrüsenhormone und Schilddrüsenmedikamente bei Probanden in den Nationalen Gesundheitssurveys. Robert Koch-Institut, Berlin, 2002